["Where were you on September 11th 2001?"]

Montag, 12. September 2011

11. September 2001. Ich bin 15 Jahre alt und gehe in die 9. Klasse eines Gymnasiums. Wir sind seit gestern auf unserer Klassenfahrt, auf die wir uns schon seit Wochen freuen! Bis jetzt ist es ziemlich cool!! Unsere Lehrer Herr Th. und  Frau W. sind beide total locker drauf, auch was Alkohol angeht. "Was wir nicht sehen, das interessiert uns auch nicht! Aber baut keinen Scheiß!" Wir haben von den anderen Klassen, die nicht mir uns an die Mecklenburgische Seenplatte gefahren sind, sondern irgendwo anders hin, gehört, dass sie gestern nach der Anreise direkt eine Taschenkontrolle hatten und die ersten schon Verwarnungen bekommen haben. Auch wenn ich nicht vor habe, mich hier zu besaufen, finde ich das ziemlich spießig. Da ist die Stimmung gleich zu Beginn im Arsch. 

Wir kommen gerade von einer Besichtigung eines ehemaligen Konzentrationslagers zurück zum Bus. Die Führung durch das KZ war seeeehr interessant und vor allem auch bewegend. Wir hatten alle tierische Gänsehaut, als wir durch die "Duschräume" geführt wurden, wo früher die Juden vergast wurden. Danach führte uns unser Guide an einen See und erklärte uns, dass man dort die vielen Leichen einfach ins Wasser geworfen hat. Keiner hat was gesagt, so still hat selbst Her Th. unsere Klasse noch nie gesehen. Alle haben nur auf den See gestarrt, geschluckt und ich könnte wetten, dass ich nicht die Einzige war, der es eiskalt den Rücken herunter lief.

Nun sitzen wir im Bus und sind auf dem Weg zu unserer Unterkunft. Wir wohnen hier in so kleinen Bungalows, wo wir uns selbst versorgen müssen, also fahren wir noch schnell an einem Einkaufszentrum mit Supermarkt vorbei, um uns Lebensmittel für's Abendessen zu kaufen. Unser Bungalow hat sich auf Nudeln mit Tomatensoße geeinigt, ist einfach und jeder mag es. 
Der Busfahrer hat eine CD von irgendwem eingelegt. Lustige Partymusik, vielleicht bringt uns das wieder auf andere Gedanken, denn wenn ich ehrlich bin, diese KZ-Besichtigung hat einige von uns ziemlich runtergezogen. Viele diskutieren noch über den zweiten Weltkrieg. "Ich bin so froh, dass wir das nicht miterleben mussten, so einen Weltkrieg. Jeden Tag mit der Angst zu leben, es könne irgendwas passieren? Gruselig!", hörte ich es aus ein paar Reihen vor mir und ich denke, da spricht A. uns allen aus der Seele.

Hm, was ist da vorne im Bus los? Wildes durcheinander, alle reden über irgendwas, aber nicht mehr über das KZ. Irgendwer redet von einer SMS, die C. von ihrem Bruder bekommen hat. Ein Flugzeug sei in das World Trade Center in New York City geflogen sein. Das klingt fürchterlich! Ich war noch nie in New York, aber ich glaube, das sind diese zwei ganz hohen Türme, die kenne ich aus dem Film "Kevin allein in New York". Da steht Kevin oben auf einem der Türme, schöne Aussicht von da oben! Wie kann da ein Flugzeug einfach so reinfliegen, die Flughäfen sind doch nicht sooo nah an Manhattan und außerdem sieht man die Türme doch.

Der Busfahrer hat die Partymusik ausgeschaltet, wir hören jetzt Radio. Aber im Radio wird keine Musik mehr gespielt. Ein weiteres Flugzeug ist in den zweiten der beiden Türme geflogen. Mittlerweile glaubt keiner mehr an einen Unfall. Irgendwas passiert da gerade auf der anderen Seite des Atlantiks und keiner versteht es.

Wir sind beim Einkaufszentrum angekommen, aber keiner schafft es so wirklich in den Supermarkt. Da stehen wir nun, die komplette Klasse, Herr Th., Frau W., unser Busfahrer und alle starren auf Ausstellungsstücke der neusten TV-Geräte in dem Schaufenster eines Elektrogeschäfts. Die Bilder sind so unwirklich, als hätte jemand eine DVD von einem ziemlich unwirklichen Katastrophenfilm eingelegt. 


Zwei brennende Türme. Der eine stürzt gerade ein. Chaos. Panik. Alles so unwirklich. Was passiert da?
Notgedrungen müssen wir uns auf den Weg in den Supermarkt machen. Die Vorfreude auf unsere lustige Küchenparty ist verflogen. Sprachlos kaufen wir die Zutaten und gehen zurück in den Bus.

Auf dem Weg zur Unterkunft finden wir dann nach und nach unsere Sprache wieder und aus ein paar "Unfassbar!"'s und "Krank!"'s werden wilde Spekulationen darüber, was da gerade passiert ist. Das Wort Terroranschlag benutzt keiner. Von Krieg ist die Rede. Ich weiß nicht, wie oft ich das Wort "Dritter Weltkrieg" bereits gehört habe und ich habe plötzlich wieder die Bilder von vor ein paar Stunden, als wir durch die Gaskammern liefen, vor Augen. "Das waren die Russen, die greifen die USA an, die schlagen zurück und dann sitzen wir alle mit drin. Dritter Weltkrieg, Leute!" ... Schräg hinter mir höre K. mit ihrer ängstlichen Stimme ihre Eltern anrufen, ich glaube sie weint.

'Krieg', denke ich, 'kenne ich nur aus Erzählungen. Meine Oma hat den ersten und den zweiten Weltkrieg überlebt. Krieg kenne ich nur aus dem Geschichtsunterricht.' Ich war dem Krieg heute in diesem ehemaligen KZ schon viel näher, als mir eigentlich lieb war. Was, wenn das in New York heute alles erst der Anfang war? Ich schließe die Augen und versuche, den Mix aus KZ-Bildern und den brennenden, einstürzenden Türmen zu vergessen.

Den Rest des Abends verbrachten wir dann alle in unseren Bungalows. Wir hatten einen Fernseher, aber nach wenigen Stunden wollten wir diese Tragödie einfach nicht mehr sehen. Also schalteten wir auf SuperRTL, der einzige Sender, der reguläres Programm zeigte. Das war das erste (und einzige) Mal in meinem Leben, dass ich "Mord ist ihr Hobby" sah. 
Der Berlin-Ausflug für den kommenden Tag wurde Abgesagt. Besorgte Eltern riefen bei Herrn Th. an und baten ihn, aus Angst vor einem ähnlichen Anschlag, nicht mit uns in die Hauptstadt zu fahren.

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Mai 2009. Ich sitze mit meiner ehemaligen Gastmutter und guten Freundin J. in einem kleinen Cafe in der Wells St. in Chicago. Sie und ihr mann V. sind beide beruflich in der Finanzwelt zuhause. Wir reden über "9/11", wie auch immer wir mitten im Mai, viele Jahre später auf dieses Thema kamen.

"V. tried to reach the New York Office, but they didn't answer the phone. He had no idea why. A few minutes later he turned on the news and realized that they couldn't pick up the phone because every single one of them was dead.  
We lost many collegues... We also lost friends. It was a terrible day. 
Ask anyone in this country where they were on 9/11 and they'll be able to tell you every single detail about that day."


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